Hier eine deutsche Sage.
In der Stubnitz auf Rügen gibt es einen Stein mit einem großen Fußabdruck und dem Abdruck eines kleinen Kinderfußes. Laut der Sage war unter den der Göttin Hertha geweihten Jungfrauen ein sehr schönes Mädchen, das der Göttin ewige Jungfrauschaft hatte schwören müssen, aber trotzdem jede Nacht heimlich eine Liebschaft mit einem jungen Ritter hatte. Der Oberpriester erfuhr, dass eine der Jungfrauen eine Liebschaft hatte und stellte sie alle zur Rede. Aber keine Jungfrau gab ihre Liebschaft zu, auch nicht die Schuldige, obwohl sie spürte, dass sie schwanger war. Deshalb rief der Oberpriester die Göttin an, dass sie ihm durch ein Wunder die Schuldige zeigen würde. Alle Jungfrauen mussten zu einem großen Opferstein im Wald gehen und eine nach der anderen barfuß auf den Stein treten. Als die Schuldige dies tat, waren in dem Stein zwei Fußabdrücke zu sehen: Ihr eigener und der ihres Babys. Daraufhin ließ der Priester sie von der Stubbenkammer ins Meer stürzen. Aber es wird gesagt, dass ein Engel sie in seine Arme nahm und sanft hinunter trug, wo ihr Geliebter sie schon erwartete und sie mit seinem Schiff mit nach Hause nahm.
Über die Sage gibt es auch ein Gedicht:
Auf der Stubnitz waldumkränzten Höhen,
In des Haines stiller Dunkelheit,
Stand, wo wir noch jetzt die Stätte sehen,
Eine Burg, dem Hertha-Dienst geweiht.
In der Götter schauerlichen Hallen
Sah man Rügens schönste Mädchenschaar;
Eine musste ihr zum Opfer fallen
Von den Priesterinnen jedes Jahr.
Aus den edelsten Geschlechtern strebten
Holde Jungfrau'n dieser Ehre nach;
Wonnetrunken ihre Herzen bebten
An der Weihe feierlichem Tag.
Aber Allem mussten sie entsagen,
Was des Lebens Lenz uns Schönes beut,
Durften kaum entfernt zu ahnen wagen
Treuer Liebe stille Seligkeit.
Wie die Sonne alle andern Sterne
Weit an Glanz und Schönheit überstrahlt,
Glänzt von Rügens Jungfrau'n nah und ferne
Wunna, kaum erst sechszehn Sommer alt.
Früh bestimmte schon der Eltern Wille
Sie zum Dienst der Göttin; aber ach!
Gumbert liebte sie, und in der Stille
Hingen Beide ihrer Liebe nach.
Als sie nun in Hertha's finstern Hallen
Ihren Dienst mit trübem Sinn versah,
Wagte Gumbert oft dahin zu wallen,
Jeden Abend stand er lauschend da.
Wunna schlich, wenn Alle um sie ruhten,
Leise durch die Pforte in den Hain
Und genoß dort selige Minuten
bei der Sterne mildem Dämmerschein.
Bald vernahm der Priester schon die Kunde,
Daß der Jungfrau'n eine ihn betrog
Und in stiller mitternächt'ger Stunde
In die Arme eines Jünglings flog.
Drob ergrimmt' er sehr und ließ erscheinen
Alle Priesterinnen, solche Tat
Streng zu rächen an der schuld'gen Einen;
Wunna bebte, als sie vor ihn trat.
Doch die Schuld'ge wußt' er nicht und fragte;
Alle schwiegen, Wunna schöpfte Mut;
Keiner hielt sie für die Angeklagte,
Denn sie war so fromm und schön und gut.
Laut erscholl des Priesters zornig Wüten,
Gleich dem Donner durch den öden Turm,
Und die sonst so bleichen Wangen glühten
Wie der Abendhimmel vor dem Sturm.
"Folget mir hinaus!" rief er, und Alle
taten schweigend, wie sein Wort gebot.
"Eh' ich diesen Frevel dulde, falle
diese Burg und gebe mir den Tod!"
Hundert Schritte aufwärts in dem Haine
dteht er still und winkt der Mädchen Schaar.
"Hier," ruft er, auf diesem breiten Steine
"wird die Schuldige uns offenbar."
"Nackten Fußes tretet auf die Mitte
Dieses Steines nach einander hin;
An dem deutlich eingeprägten Tritte
kennen wir die freche Sünderin."
Sprach's, und Alle schritten kühn hinüber;
Wunna blieb zuletzt. Noch keine Spur.
Ach da wurden ihre Augen trüber
Und sie wankte, bleich und zitternd, nur.
Trat hinauf. Doch wehe! schallt's im Haine
Aus des Priesters und der Jungfrau'n Mund.
In dem wunderhaften Göttersteine
taten sich zwei Spuren deutlich kund.
Von dem eig'nen Fuße war die eine
und die and're zart wie Kindestritt.
Deutlich war die Schuld, als sie vom Steine
bleich und überrascht herniederschritt.
Was sie selbst sich nicht gestehen wollte,
Ja, was ihr vielleicht noch Rätsel war,
dass sie nämlich Mutter werden sollte,
Lag nun Aller Augen offenbar.
Gleich dem Aar, der mit gespreizten Klauen
pfeilschnell auf die Beute niederfährt
und das Lamm von unbewachten Auen
mit sich führt, weil ihm kein Schäfer wehrt,
So umfasst mit grimmig-starken Armen
Schnell der Priester Wunnas zarten Leib;
Reißt sie fort ohn' jegliches Erbarmen,
Fast zerdrückend das ohnmächt'ge Weib.
Droben auf der hohen Stubbenkammer
Hält er an, und mit gewalt'ger Wucht
Stürzet er, - o unerhörter Jammer! -
Wunna in die tiefe Bergesschlucht.
Doch mit ew'ger Liebe und Erbarmen
schützet auch den Sünder Gottes Hand;
Engel trugen Wunna auf den Armen
sanft hernieder an des Meeres Strand.
Als aus langem Schlummer sie erwachte,
lag sie an des Jünglings treuer Brust;
und der Liebe goldne Sonne lachte
ihrem Leben nun in reiner Lust.
Wenn Du auf der Stubbenkammer weilest,
wandle doch zum alten Götterhain,
ehe Du von Jasmunds Fluren eilest;
noch erblickst Du dort den Wunderstein.
Welch ein Glück, dass wir in unsern Tagen
sicher auf den breiten Steinen stehn,
und dass unsre Tritte nicht mehr sagen,
wie viel stille Sünden wir begehn.