
Schlafwandler
Das hier ist einer ehemaligen Mitschülerin meiner Schwester passiert. Sie lebte zuletzt allein, in einem kleinen Single-Apartment, in B*. War an der dortigen Uni eingeschrieben.
Angefangen hat es wohl damit, dass sie gelegentlich morgens nach dem Aufwachen äußere, meist oberflächliche Verletzungen an sich feststellte, die am Abend zuvor noch nicht dagewesen waren und deren Herkunft sie sich nicht erklären konnte.
Jemand - möglicherweise aus ihrem Bekanntenkreis - dem sie davon erzählt hat, hat daraufhin wohl ihr gegenüber geäußert, möglicherweise schlafwandle sie ja, wobei sie sich unabsichtlich selbst verletze. Wenn sie dahingehend sicher sein wolle, solle sie doch eine Kamera in ihrem Schlafzimmer aufstellen, die sie nachts - im Schlaf - filmt.
Das Video ist nach wie vor online. Man sieht, in grünstichigem Nachtsichtmodus, wie sie im Bett liegt. Sich gelegentlich bewegt. Dann steht sie auf, verlässt den Raum - und kehrt nach fast zwei Stunden zurück, legt sich wieder hin und schläft offensichtlich durch bis zum Morgen.
Laut Audiokommentar hatte sie am nächsten Tag keinerlei Erinnerung an den nächtlichen Vorfall. Weder daran, wo sie sich in besagten knapp zwei Stunden aufgehalten, noch an das, was sie währenddessen getan hatte. Das letzte Bild zeigt die frischen Hämatome auf ihren Unterarmen, die irgendwie damit zusammenhängen mussten.
Also verteilte sie weitere Kameras (billige Webcams mit entsprechend niedriger Auflösung) in ihrer Wohnung, die den gesamten Wohnraum annähernd lückenlos überwachten; und filmten.
Die ersten Aufnahmen sind noch vergleichsweise harmlos. Einiges davon hat sie in Chatforen und auf diversen Videoplattformen hochgeladen.
Man sieht sie darin etwa eine gefühlte Ewigkeit lang regungslos in ihrer Küche stehen. Dann rammt sie plötzlich, unvermittelt ihre Faust gegen die Wand. Oder ihren Kopf. Oder gegen die Tischkante. Kratzt sich, boxt und schlägt sich selbst.
Im Anschluss, bei Tageslicht, hält sie dann ihre Verletzungen in die Kamera. Die dunkel verfärbten, geschwollenen Knöchel. Die offene Platzwunde überm Auge. Die neue Zahnlücke. Und betont, dass sie sich an nichts von all dem erinnere, was auf den nächtlichen Aufnahmen zu sehen ist.
In den Chatforen geht es um Somnambulie, Parasomnie, Autoaggression, Schizophrenie, Besessenheit.
Kenneth Parks.
Die nächtlichen Filmaufnahmen wurden dann ziemlich schnell krasser; und noch krasser. Die Aufnahmen von dem, was sie da nachts - angeblich im Schlaf - tat.
Die letzten Videos waren jeweils nur noch wenige Stunden online, dann wurden sie gesperrt oder gelöscht. Die aus der Nacht, als sie das mit der Rasierklinge gemacht hat; oder das mit den Zehennägeln; oder wo sie die Zähne verschluckt. (Das Internet, heißt es, vergisst nichts; also werden die Sachen - auch die indizierten - wohl nach wie vor irgendwo zu finden sein.)
Bis zuletzt hieß es in den Audiokommentaren oder auf Texttafeln, dass sie sich am Tag danach an nichts aus der Nacht zuvor erinnern konnte.
Das Ganze muss sich über Wochen hingezogen haben, Nacht für Nacht. Anfangs hatte sie wohl noch Kontakt zu ihren Eltern, ihrem Bruder. Als sie sich dann nicht mehr meldete, fand ihr Bruder sie in ihrer Wohnung. Die Webcams filmten. Es war helllichter Tag.
Die Polizei hegte zuerst den Verdacht, sie sei Opfer eines offensichtlich geistesgestörten Mörders geworden, möglicherweise eines Serienkillers, der sie über einen längeren Zeitraum in ihrer eigenen Wohnung bestialisch zu Tode gefoltert hatte. Dann haben sie vielleicht ein wenig online recherchiert; und die Videodateien auf den Festplatten gesichtet.
Die Staatsanwaltschaft hat die Kameras, ihr Notebook und die externen Festspeicher, auf denen die Kameraaufnahmen gespeichert waren, konfisziert; und hält die Sachen, laut ihrem Bruder, seither unter Verschluss. Es kursieren Gerüchte, dass auf manchen Aufnahmen noch mehr zu sehen sei. Der eigentliche Grund, weshalb sie sich Nacht für Nacht diese Dinge angetan hat. Unbewusst. Im Schlaf. Angeblich.
Keine Ahnung, ob an den Gerüchten was dran ist. Letztendlich ist es wohl auch egal. Das Phänomen greift seither um sich, verbreitet sich offenbar längst viral.
Auf manchen Online-Plattformen wimmelt es mittlerweile geradezu von Amateurfilmen von angeblichen Schlafwandlern, Somnambulen, die sich selbst kratzen, beißen, brennen, stechen, schneiden, Köpfe gegen Wände schlagen und mit Handbohrern, Nagelfeilen und Schleifpapier bearbeiten, bis Blut fließt. Es ist fast schon wie eine Epidemie.
Alles Fake, gestellt, inszeniert, nicht echt, höhnen die Kommentarspalten.
Mag sein, vielleicht.
Meine Schwester war auf der Beerdigung.